
BBei den Eisenbahnbrücken in Hasselbrook hat Amina Karam es ganz anders gemacht, als man es sonst tun würde. Denn “normalerweise” würde der Bau der neuen S-Bahn-Linie S4, die Hamburg mit Bad Oldesloe verbinden soll, zu lange dauern. Ende 2022 musste eine Brücke für die neuen Umgehungsstraßen über die abgesenkte Hammer Straße errichtet werden, um den Bau der S4 zu beschleunigen. Die Betonbrücke, die dort eigentlich gebaut werden sollte, gab es damals noch nicht. Karam, 39, Projektleiter der S4, bestellte stattdessen zwei stählerne Brückensegmente aus dem Bestand der Deutschen Bahn und ließ sie einbauen.
In wenigen Jahren wird das Provisorium dann durch eine Betonkonstruktion ersetzt – doch die Deutsche Bahn und ihre Partnerunternehmen gewinnen im Laufe des Großprojekts zunächst Zeit. Mit 13 Monaten, sagt Karam bei einem Baustellenrundgang: „Man muss den Mut haben, neue Wege zu gehen und geplante Abläufe zu überarbeiten, wenn bessere Lösungen möglich werden.“
Deutschlands Verkehrswege sind am Limit, Bund und Länder investieren Milliarden in Straßen, Schienen und Wasserstraßen. Die deutsche Infrastruktur galt lange Zeit als eine der besten der Welt. Doch öffentliche Projekte sind in den letzten Jahren immer mehr zum Synonym für Bauhorror geworden: Mitunter verhindern Bürgerinitiativen ein bereits weitgehend geplantes Bahnprojekt wie die Güterfernstrecke „Y-Trasse“ zwischen Bremen, Hamburg und Hannover, manchmal stürzt ein ganzes Autobahnstück ein wie auf der relativ jungen A20 in Mecklenburg-Vorpommern, manchmal vergehen von der ersten Planung bis zur Realisierung der Elbvertiefung 20 Jahre.
Die Ampelkoalition in Berlin will umfassend gegensteuern, um das deutsche Verkehrssystem auf das erforderliche und gewünschte Niveau zu bringen. Zentraler Baustein ist die Stärkung des Schienenverkehrs und die Einführung eines straffen „Deutschen Taktes“ bis Ende des Jahrzehnts. Dies korrespondiert unmittelbar mit der „Verkehrswende“ in Hamburg und dem Ausbau des Schienennahverkehrs in Deutschlands zweitgrößter Stadt und ihrer Metropolregion.
Bis Ende 2029 will die Deutsche Bahn die Linie S4 mit einer Tageskapazität von bis zu 250.000 Fahrgästen teilweise wieder herstellen und damit den Regional- und Fernverkehr im Hamburger Nordosten künftig entlasten. Im Nordwesten wird die S21 in den kommenden Jahren zwischen Eidelstedt und Kaltenkirchen zur S5 verlängert.
Die U-Bahn der Stadt hat bis in die 2030er Jahre eine neue Linie U5 gebaut, die den Osten Hamburgs in einem weiten Bogen durch die Innenstadt mit den Stadien im Westen verbinden soll. Die bestehende Linie U4 wird bis 2026 bis zur Horner Geest im Osten Hamburgs verlängert und langfristig voraussichtlich über die Elbbrücken nach Süden bis Wilhelmsburg weitergeführt.
Um die Arbeitsbelastung der Bundesregierung in den Griff zu bekommen, hat Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) im vergangenen Jahr eine Kommission zur Beschleunigung und Optimierung des Schienenausbaus eingesetzt. In ihrem Abschlussbericht vom Dezember 2022 nannten die Gutachter unter anderem zehn deutschlandweite Pilotprojekte für das sogenannte „Eisenbahnpartnerschaftsmodell“ – eines davon ist der Bau der S4 in Hamburg.
Vereinfacht gesagt geht es um die vollständige Integration aller am Bau Beteiligten, um moderne Ausschreibungsformulare, Prozessoptimierung und bessere Risikoverteilung. „Wir arbeiten so flexibel wie möglich und testen ständig neue technologische und logistische Möglichkeiten“, sagt Projektleiter Karam. „Das Konzept der sog “Agiles Bauen” hilft uns sehr, gerade hier in den beengten Verhältnissen innerhalb der Stadt.
Ideen zur Beschleunigung sind gefragt. “Wir werden voraussichtlich ab Mai hier in Wandsbek Helikopter einsetzen, statt vom Boden aus zu montieren”, sagt Karam zwischen Ausgrabungen und schweren Fahrzeugen. „Dieses Verfahren mit seinen hohen Sicherheitsanforderungen ist in der Stadt nicht üblich. Aber es wird uns viel Zeit sparen, besonders innerhalb der Stadt.“
Mit den Stahlbehelfsbrücken in Hasselbrook will die Deutsche Bahn auch die Anzahl und Dauer sogenannter „Sperrzeiten“ reduzieren, in denen der reguläre Zugverkehr aufgrund von Bauarbeiten eingeschränkt ist. Aus Sicht von Hamburgs Verkehrssenator Anjes Tjarks (Grüne) ist die S4 notwendig für die Modernisierung des Hamburger Nahverkehrs insgesamt sowie für die Entlastung des Hauptbahnhofs: „Durch die Anhebung der beiden Bestandsbrücken und durch ‚ agiles Bauen‘ stellt die Deutsche Bahn sicher, dass der Regionalverkehr nach Lübeck während der Arbeiten an der Linie S4 weitergeführt werden kann und das Projekt planmäßig voranschreitet.“
Bauliche Mitarbeit ist erforderlich
Inflation, Fachkräftemangel und schwache Lieferketten machen öffentliche Bauvorhaben komplizierter als ohnehin schon. In der traditionellen Logik führt dies zu Reibereien, Schuldzuweisungen und Blockaden zwischen öffentlichen Auftraggebern und privaten Unternehmen. Mit ihrem neuen Modell will die Deutsche Bahn solche Effekte minimieren. „Bei S4 gibt es keine klassischen ‚Auftraggeber‘ und ‚Auftragnehmer‘ – alle Projektpartner sind involviert“, sagt Karam. „Zum Beispiel sind alle Baufirmen von Anfang an in den Planungsprozess eingebunden. Alle Beteiligten einigen sich auf gemeinsame Ziele und tragen gemeinsam die Verantwortung für mögliche Mehrkosten. Ich bin jedoch für die Koordination und Leitung des gesamten Projekts verantwortlich.“
Ähnlich geht die Hochbahn bei ihren Großprojekten vor: „Wir setzen immer auf partnerschaftliche Zusammenarbeit und ein faires Verhältnis zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer“, sagt eine Sprecherin der Hochbahn-Tochter U5 Projekt GmbH, die die Neubaustrecke umsetzt. Dazu gehören Planung, Baufortschritt, Risikoallokation und Innovationsentwicklung nach dem Prinzip des „Value Engineering“.
Karam sagt, das rund 1,85 Milliarden Euro teure S4-Projekt sei “im Zeitplan”. Bis Ende 2027 soll der erste Abschnitt der städtebaulichen Genehmigung, der ab 2021 gebaut wird, fertiggestellt sein. Für den zweiten Abschnitt hat Ihr Projektteam kürzlich die Planfeststellungsunterlagen an die zuständige Verkehrsbehörde in Hamburg weitergeleitet. Nach eingehender Prüfung wird es in den kommenden Wochen öffentlich gemacht, damit Bürger und Verbände Stellung nehmen können. Dieser Prozess folgt im Sommer auch für die dritte Planungsphase.
Die Kommunikation mit der Öffentlichkeit, sagt die gebürtige Marokkanerin über ihre Erfahrungen in Deutschland, sei ebenso wichtig wie der Zusammenhalt innerhalb des Projekts. Ihr Team arbeitet eng mit der Stadt und den Bürgern vor Ort zusammen, etwa um den besten Lärmschutz entlang der Strecke zu finden: „Die Bürgerinnen und Bürger fordern hierzulande zu Recht viel Transparenz und Partizipation. Das ist gut, und das muss man immer berücksichtigen – wir können und wollen nicht gegen Menschen bauen, wir wollen für sie bauen.“
Amina Karam, geboren in Marokko, 39, studierte nach dem Abitur Bauingenieurwesen in Köln. Mit 28 Jahren war sie technische Leiterin der U-Bahn in Algeriens Hauptstadt Algier. In Port Said, Ägypten, leitete sie den Bau eines Straßentunnels unter dem Suezkanal. Karam leitet ab Februar 2021 das Projektteam für den Neubau der S-Bahn-Linie S4 der Deutschen Bahn in Hamburg.